Sonntag, 9. September 2012

Abenteuer Ruanda - ein zwiespältiger Blick zurück

Ruanda ist ein gastfreundliches Land, das mindestens einen Besuch wert ist
Ruanda. Kleines Land zwischen Tansania, Burundi, der Demokratischen Republik Kongo und Uganda. Weit weg und doch irgendwie so nah. Ein Stück deutscher Kolonial-Vergangenheit in Ostafrika. Und noch viel mehr.

Wunderschön ist es, das „Land der tausend Hügel“. Ich würde ja eher sagen, es sind 10.000. Und gefühlt 100.000 Kurven auf den gut geteerten Haupt- und den echtes Offroad-Feeling vermittelnden Nebenstraßen. Berggorillas und Schimpansen kann man hier sehen, auf Safari gehen, an schönen und an gefährlichen Seen flanieren, zwischen Vulkanen oder durch den größten Bergregenwald Ostafrikas wandern. Sauber ist es. Plastiktüten sind hier seit ein paar Jahren verboten. Das sieht man den Straßen an, den Dörfern und besonders den Städten. Wo kein Müll herumflattert, wird auch weniger weggeworfen. Das bekannte afrikanische Bild mit den verdreckten Ansiedlungen und den Müllfeuern – hier findet man es kaum. Und das, obwohl die Bevölkerungsdichte hoch ist. Mit 444 Menschen pro Quadratkilometer (Deutschland 229) die höchste auf dem afrikanischen Kontinent. Zieht man die Stadtstaaten mal ab, liegt Ruanda weltweit  in den Top Ten.

Fahrräder werden auch als Taxi genutzt
Schweinische Fracht
Die Städte, Dörfer und Straßen sind belebt. Jeder ist irgendwie in Bewegung. Beliebtestes Transportmittel ist das Fahrrad. Damit wird nahezu alles herumgefahren, was die Speichen und die verstärkten Rahmen aushalten. Bis zu sieben Bananenstauden haben wir auf einem Gepäckträger gesehen, sechs Kanister mit Wasser, fünf volle Bierkästen, Hühner, Holzkohle, Lebensmittel, Matratzen, Viehfutter, Baumstämme, Baumaterial, mit dem das Fahrrad breiter als ein Pkw wird. Menschen werden auf dem Gepäckträger herumgefahren, mancherorten sogar offiziell als Velo-Taxi mit gepolstertem „Rücksitz“. Oder es wird auch mal inoffiziell Junior auf einen gut verzurrten Sack gesetzt. Selbst Schweine (wohl lebend, auf jeden Fall fest verschnürt) und ein Schaf (definitiv lebend) haben wir gesehen, wie sie auf dem Fahrrad durch die Gegend kutschiert wurden. Bergauf – meist schiebend. Bergab – zum Teil wahnsinnig schnell. Wir sind auf dem Weg zum Lake Kivu verfolgt wurden von einem schwer beladenen Radfahrer. Als wir über 70 km/h schnell waren und er immer noch nicht weichen wollte, habe ich echt überlegt, ob ich mich von ihm überholen lasse… Erst als das Gefälle nachließ, blieb er zurück.

Selbst Busbahnhöfe sind hier geordnet
Auch wir sind Moto-Taxi gefahren
Das soll nicht heißen, dass es auf den Straßen besonders wild zugeht. Dazu ist, zumindest außerhalb der Hauptstadt Kigali, viel zu wenig los. Vierrädriger Individualverkehr ist hier die Ausnahme. Die kleinen und großen Busse fahren deutlich gesitteter als in anderen afrikanischen Länder. Die Moto-Taxis geradezu diszipliniert, jeder Fahrer hat eine Lizenz und sogar immer einen Helm für den Sozius dabei. In Kigali sind die Straßen trotz der größeren Dimensionierung allerdings durch das enorme Wachstum nicht mehr in der Lage, den Verkehr flüssig durchzuleiten. Zumindest in der Rush Hour fühlt man sich an europäische Metropolen erinnert. Modernste Verkehrsleitsysteme mit Ampeln, die die Zeit bis zur nächsten Grünphase herunter zählen, oder blinkende LED-Leuchten an Bushaltestellen und vor den unvermeidlichen Bremsschwellen helfen da auch nicht weiter.

Die Hauptstadt Kigali - im Hintergrund das moderne Stadtzentrum
Auch sonst ist die Millionenstadt in einigen Teilen sehr modern. Wolkenkratzer ragen in den Himmel, die Giganten aus Glas, Stahl und Beton sind weithin sichtbar. Dennoch fühlt man auf den Hügeln und in den Tälern noch den Atem einer afrikanischen Stadt, spürt man das Pulsieren in den Gassen, genießt man Markttreiben in seiner ursprünglichsten Form und kann man sich nicht sattsehen an der Farbenpracht der Gewänder und der Eleganz ihrer Trägerinnen und Träger. Moderne Hotels, Einkaufszentren, ein Golfplatz, Restaurants aller Couleur werden aber in erster Linie von Gästen aus Amerika, Europa und Asien frequentiert. Von denen sieht man hier viele, überwiegend in offizieller Mission – Ruanda hat ehrgeizige Pläne und findet in der internationalen Gemeinschaft viele Geldgeber. IT-Zentrum Afrikas will man werden bis 2020, investiert dafür viel in Schulbildung und Universitäten, lockt Professoren mit Gehältern, die die in manchem europäischen Land übertreffen. Gute Aussichten für junge Menschen, von denen es hier massenweise gibt.

Immer mehr öffnet sich das Land dem Tourismus, nicht nur die Berggorillas stehen dabei im Mittelpunkt. Oft sind es Praktikanten aus aller Welt, die in ihrer Heimat Werbung für das kleine Land in Äquatornähe machen. Nichts, aber auch gar nichts deutet im Alltag in diesem aufstrebenden, friedlichen und gastfreundlichen Land darauf hin, was hier vor etwas mehr als 18 Jahren tobte. Ein Völkermord, der in seiner Planung, in seiner Brutalität und seiner Effizienz zum schlimmsten gehört, was die Menschheit jemals erlebte. Und was ein Teil der Menschheit zu verantworten hat.

In Sichtweite zum Zentrum Kigalis findet man die Genozid-Gedenkstätte.
Hier wird man informiert über die schlimmsten Tage in der Geschichte des
Landes. Die Bild-, Ton- und Textdokumente zeigen auf erschütternde Art
und Weise, wozu Menschen fähig sind. Mehr als 200.000 Menschen wurden
auf diesem Gelände in Massengräbern beigesetzt. Auch wenn es schwer fällt,
diesen Ort muss man bei einer Reise nach Ruanda unbedingt besuchen
Sicher haben wir was davon mitbekommen, damals, in unserem friedlichen, vereinten Deutschland. 1994. Stammeskrieg in Ruanda. Die Hutu bringen die Tutsi um. Wollen sie ausrotten. Irgendwie so.  Eine von vielen schlechten Nachrichten aus aller Welt, die einen langsam abstumpfen lassen. Am 6. April ging es los. Und doch schon lange vorher.

Den Ursprung finden wir in der deutschen Kolonialzeit, als Deutsche die Tutsi, mit etwa 15 Prozent zweitstärkste Bevölkerungsgruppe in Ruanda, gegenüber den Hutu (fast 85 Prozent, dazu noch eine kleine Gruppe von Twa-Pygmäen) bevorzugten. Als Begründung findet man oft zu lesen, dass hier die deutsche Rassenideologie die Tutsi deshalb hervorhob, weil diese den Niloten entstammen und demzufolge näher mit Europäern verwandt sein sollen als die „negroiden“ Hutu. Dem widerspricht die Aussage, die wir hier in Ruanda hörten, dass Tutsi ursprünglich die Bezeichnung für die Viehhirten und Hutu die für die Ackerbauern war, es also eine ethnische Unterscheidung in dem Sinne in Ruanda gar nicht gegeben hat. Tutsi zum Beispiel war laut einer im Jahr 1934 durchgeführten Volkszählung derjenige, der mehr als zehn Rinder hatte, Hutu demzufolge jeder mit weniger Vieh. Was für ein Wahnsinn!

Zutreffender ist demzufolge die Erklärung, dass es einfach bequem für die Kolonialherren war, ein Hilfsvolk aufzubauen, dem man ein Stück Macht und damit auch ein Stück Kontrollfunktion übergibt und das von sich aus Druck auf den Rest der Bevölkerung ausübt. Die Belgier, die im Verlauf des 1. Weltkriegs die Macht übernahmen, führten dieses System der Ungleichbehandlung fort. Auch die Katholische Kirche unterstützte es durch eine unterschiedliche Förderung in den Missionsschulen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg entdeckten die Missionare ihr „Herz“ für die nun schon stark unterprivilegierten, wenn auch deutlich in der Mehrzahl befindlichen Hutu.

So nahm das Unheil seinen Anfang. Nachdem sich die (künstliche) Trennung zwischen Tutsi und Hutu Ende der 50er Jahre erstmals in größerem Rahmen gewaltsam manifestierte, trat zwar ein grundlegender Wechsel in den Machtverhältnissen ein. Das führte aber, auch aufgrund einer zunehmenden Politisierung des Konflikts, nicht zur Beruhigung. Ende der 80er Jahre lebten 600.000 Tutsi im Ausland. Von Uganda aus fiel die Ruandische Patriotische Front (RPF), die Tutsi-Armee, nach Ruanda ein. Der Angriff konnte zwar zunächst mit Hilfe belgischer, französischer und zairischer Hilfe zurückgeschlagen werden, es gab aber auch in den Folgejahren immer wieder Kämpfe.

Mit französischer Unterstützung wurde in dieser Zeit nicht nur die ruandische Armee unter Hutu-Führung vervielfacht, sie wurde auch extrem aufgerüstet. Außerdem wurden Banden, Polizisten und ehemalige Soldaten für den bevorstehenden Kampf ausgebildet. Gleichzeitig billigte, ja förderte die ruandische Regierung Gewalttaten gegen Tutsi und Hutu-Oppositionelle. Seit 1990 wurde zudem in den auf Regierungslinie gebrachten Medien der Völkermord an den Tutsi vorbereitet. Es gab die „Zehn  Gebote der Hutu“, die vor allem den Umgang mit Tutsi-Frauen regelte, es gab Berichte über erfundene Massaker an Hutu – und selbstverständlich wurden die Aktivitäten militanter Tutsi, wie die Ermordung des Hutu-Präsidenten im Nachbarstaat Burundi, ebenso wie der Erfolge der Tutsi-Streitkräfte mit entsprechender Bewertung publiziert. 1993 und 1994 erstellten extremistische Hutu Todeslisten. Schusswaffen, aber auch Macheten wurden an die Bevölkerung verteilt.

Die Staatengemeinschaft war frühzeitig über die Völkermordplanungen, die Waffenverteilung, die zunehmende Verhetzung der Bevölkerung informiert. Die UN verstärkte die Truppenpräsenz jedoch nicht, sondern verringerte sie nach Ausbruch der Gewalttaten von 2500 auf 270. Letztlich war es die Tutsi-Armee RPF, die, obwohl zahlenmäßig nur ein Drittel der ruandischen Streitkräfte, den Bürgerkrieg nach etwa 100 Tagen gewann und den Völkermord beendete. UN-Generalsekretär Kofi Annan, aber auch die Präsidenten Frankreichs und Belgien räumten, teilweise lange Zeit später, schwere Fehleinschätzungen und Versäumnisse ein.

Als am 6. April 1994 die Maschine des Präsidenten beim Landeanflug auf Kigali abgeschossen wurde und alle Insassen starben, begann der Völkermord. Neueste Untersuchungen machen Hutu-Extremisten dafür verantwortlich, die einen Vorwand für den Genozid brauchten. Schon eine halbe Stunde später wurden die ersten Tutsi regelrecht hingerichtet, unter ihnen die Premierministerin und die sie bewachenden zehn belgischen UN-Soldaten. In den folgenden Tagen breitete sich die Gewaltwelle über das ganze Land aus. Waren es anfangs vor allem Einzeltaten, wurden später die Zufluchtsstätten von Tutsi, besonders Kirchen und Schulen, zu tödlichen Fallen. Mit Handgranaten, Schuss- und Hiebwaffen wurden alleine an solchen Plätzen etwa 250.000 Menschen umgebracht.

Die Namen von einigen der Völkermord-Opfer in der Gedenkstätte in Kigali.
Hier wurden die Gebeine von mehr als 200.000 Menschen in Massengräbern
beigesetzt. Die Ausstellung gibt einen erschütternden Einblick in Planung und
Durchführung des Völkermords und zeigt, wozu Menschen fähig sind.
Insgesamt spricht man von 800.000 bis zu einer Million Toten in etwa 100 Tagen. Oftmals wurden  Menschen vor den Augen ihrer Familienangehörigen verstümmelt, vergewaltigt, getötet. Teilweise mussten sie sich gegenseitig umbringen. Vor allem Kinder ließ man zusehen, wie ihre Eltern gefoltert und umgebracht worden. Von einigen dieser grausamen Schicksale kann man in den vielen Gedenkstätten des Landes erfahren. Sie zu beschreiben, nur daran zu denken, treibt mir die Tränen in die Augen. Was können Menschen, egal aus welchen Beweggründen, doch für Bestien sein?!

Die meisten der Täter, man spricht in seriösen Schätzungen von mehr als 200.000, sind heute wieder auf freiem Fuß oder wurden nie verurteilt. Sie leben in unmittelbarer Nachbarschaft mit Menschen, die früher schon ihre Nachbarn, ihre Kollegen, ihre Freunde waren. Bis sie Teile dieser Familien auslöschten. Für viele Opfer ist es eine fortwährende Qual, die Menschen und deren Kinder in Frieden aufwachsen zu sehen, die ihre Kinder, ihre Eltern, ihre Verwandten massakriert haben. Frauen, die infolge von Vergewaltigungen mit Aids infiziert wurden, können die Medikamente nicht bezahlen. Täter in den Gefängnissen werden dagegen bestens medizinisch versorgt, weil es dafür internationale Hilfsmittel gibt. Zigtausende Kinder mussten plötzlich als Haushaltsvorstand Verantwortung für jüngere Geschwister übernehmen, ohne Erfahrung, ohne Einkommen. Täter wie Opfer leiden oftmals unter schweren psychischen Folgen der Ereignisse.

Kann man solch ein Grauen vergessen? Definitiv nein. Kann man so etwas vergeben? Ich könnte es nicht.

Als Gast im Land spürt man von alldem nichts. Man sieht eine Nation, die sich entwickelt, die aufblüht, die dem Nachwuchs eine Zukunft bietet. Große Infrastruktur- und Hilfsprojekte wurden und werden mit Hilfe aus dem Ausland finanziert. Internationales Kapital fließt seit mehr als anderthalb Jahrzehnten reichlich nach Ruanda, ermöglicht Investitionen, bringt Arbeit und Wohlstand. Ist es das schlechte Gewissen der Weltgemeinschaft, die durch ihre Ignoranz den Völkermord begünstigte und die nun durch großzügige Unterstützung versucht, etwas wieder gutzumachen?

In Ruanda trifft es noch mehr als anderswo zu: Die Kinder sind die Zukunft
Ruandas Chance sind die Kinder. Fast 45 Prozent der Einwohner sind jünger als 14 Jahre. Sie kennen den Völkermord nur aus Erzählungen, aus Berichten, aus Gedenkstätten. So wie die meisten von uns den zweiten Weltkrieg, den Holocaust, die Konzentrationslager nur aus Erzählungen, Berichten und Gedenkstätten kennen. Noch nie ist mir die deutsche Vergangenheit so schmerzhaft bewusst geworden wie in Ruanda. 18 Jahre ist der Genozid nun schon vorbei. Ich habe das Gefühl, als könnte so etwas immer wieder irgendwo auf der Welt passieren. Warum lernt die Menschheit nicht aus ihren Fehlern? Hören wir endlich damit auf, wegzuschauen. In Afrika, überall sonst in der Welt. Und vor allem jeder vor seiner Haustür.

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